Tsveyfl – Was ist es? Was will es? Was soll das?
Aus der Losung, dass Theorie die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auf deren Veränderung zu zielen habe, ist längst ein Mantra geworden, in dem die Interpretation der Welt bestenfalls zur Hilfswissenschaft degradiert wird. Dass Verhältnisse verstanden – also interpretiert – werden müssen, um sie verändern zu können, wird zum lästigen Einwand aus dem Elfenbeinturm erklärt, der insgeheim der Ort sei, an dem sich Kritik in den Verhältnissen komfortabel einrichten würde. Denn Interpretation bedeutet, die vorgefundenen Verhältnisse auf ihre Zwecke hin zu befragen, sich also im denkenden Nachvollzug des jeweiligen Gegenstandes mit diesem tatsächlich gemein zu machen, um nicht nur seine innere Logik, sondern auch die damit verfolgten Interessen erkennen zu können.
Die implizite Voraussetzung jeder Interpretation gesellschaftlicher Verhältnisse ist daher, dass diese nicht als von Natur, Gott oder sonst wie Gegebene, sondern immer als Gemachte verstanden werden, ohne jedoch die Realität zu leugnen, die ihre Gültigkeit ihnen verschafft.
Von der Einsicht in diese Notwendigkeit aber hat sich die Linke und mit ihr der Anarchismus längst abgewandt. Die Verhältnisse sind schlecht, mehr gibt es über sie nicht zu wissen; sie gehören bekämpft, nicht verstanden. Dies trifft insbesondere auf den Anarchismus zu, der aus der Kritik illegitimer Autorität und ihrer Gleichsetzung mit Herrschaft die Ablehnung von Autorität überhaupt ableitet. Letztlich ist damit immer auch die Autorität der richtigen Kritik der Verhältnisse suspendiert. Was folgt, ist die Beliebigkeit der Vorschläge, was zu tun sei.
Aus der Beliebigkeit aber folgt die Bedeutungslosigkeit; die Absage an die begriffliche Bestimmung der Verhältnisse geht mit der Unfähigkeit, diese zu verstehen, Hand in Hand. Wenn die Zusammenhänge unverstanden bleiben, die dafür sorgen, dass die immer gleichen Strukturen reproduziert werden, ist auch die Perspektive auf ihre Überwindung verstellt.
Zur Einsicht in die gegebenen Verhältnisse gehört aber zuallererst die Einsicht in das mangelnde Emanzipationspotenzial, das diese generieren. Das Ausbleiben der Revolution legt davon Zeugnis ab.
Hier liegen Stärke und Schwäche des Anarchismus dicht beieinander: der Fokus auf das Subjekt, das sich dieses Potenzial gemeinsam mit anderen gegen die Unzulänglichkeit der Verhältnisse anzueignen habe, betont, dass die Bezugnahme der Subjekte auf die gegebenen Verhältnisse im Zentrum jeder Emanzipation stehen muss. Dabei wird jedoch der Blick von den Verhältnissen selbst abgewandt. Die vielfältigen Weisen der Einbindung der Subjekte in diese werden ignoriert und insbesondere die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, auf die die Subjekte keinen unmittelbaren Einfluss haben, bleiben unbeleuchtet.
Weil Veränderung infolgedessen nur isoliert und punktuell angestrebt wird, kann sie immer wieder in die bestehenden Verhältnisse integriert werden, statt emanzipatorisches Potenzial freizusetzen. Hieran zeigt sich, dass und warum Veränderung nicht inhärent emanzipatorisch ist; wo nur auf einzelne Elemente gesellschaftlicher Zusammenhänge gezielt wird – ob in der Hoffnung, dadurch überhaupt wirksam werden zu können, in der Überzeugung, den entscheidenden Punkt isoliert zu haben, oder in von vornherein regressiver Absicht – kann nicht die Überwindung bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung das Ergebnis sein, sondern entweder deren Transformation oder ihre bloße Abschaffung, die aufgrund des mangelnden Emanzipationspotenzials nirgendwohin führen kann als in die Barbarei. Die so geschaffenen Alternativen sind keine; sie scheitern, werden partiell integriert oder begnügen sich damit, neben den Verhältnissen her zu existieren, ohne ihnen dabei etwas entgegen zu setzen zu haben.
Anarchismus, der real auf die Befreiung der Einzelnen zielen will, muss all diese Bedingungen verstehen; er muss nicht nur verstehen, wie der 'stumme Zwang der Verhältnisse' zu ihrer beständigen Reproduktion führt, sondern auch, warum parallel dazu die immer gleichen bewusstlosen Reflexionen auf diese Verhältnisse entstehen.
Deswegen muss zunächst und zuallererst die Arbeit am Begriff in den Mittelpunkt rücken: Anarchistische Theorie muss ihre Begriffe bestimmen, wenn sie etwas zu sagen haben will.
Weil die zur Verfügung stehenden Begriffe auf vielfältige und widersprüchliche Weisen bestimmt wurden und werden, ist der Dissens ein notwendiger Schritt auf der Suche nach einer sinnvollen Bestimmung. Das bedeutet auch, die Trennung von Theorie und Praxis – bei der die Theorie immer schon zu Gunsten einer blinden Praxis suspendiert ist – zu überwinden und ein dialektisches Verständnis von Praxis zu entwickeln, das nicht Denken und Handeln als getrennt versteht, sondern als sich bedingende Kategorien die aufs engste verknüpft sind. So ließe sich die Welt dann auch verändern – wenn man sie interpretieren kann. Von dieser Überzeugung ist das Projekt Tsveyfl getragen.
Tsveyfl erscheint im Syndikat-A Verlag.
Die jeweiligen Ausgaben haben einen thematischen Schwerpunkt, der nicht immer tagesaktuell in Debatten eingreifen muss, aber für den Gegenstand, Anarchismus, relevant ist. Für jeden Schwerpunkt gibt es einen Call for Papers, der online veröffentlicht wird.