Wider den revisionistischen Syndikalismus
Redaktion Tsveyfl
2018 entwarfen wir eine Kritik des Neomoralismus1, ein linkes Denk- und Handlungsprinzip, welches die Individuen für die herrschenden Verhältnisse direkt verantwortlich macht und von ihnen unmittelbare Lösungen für die strukturellen gesellschaftlichen Verhältnisse einfordert, die er nur als Summe dieser individuellen Handlungen begreifen kann. Eine dem Neoliberalismus angepasste linke Ideologie, die vermeintlich auf Befreiung zielt, in der Realität jedoch Herrschaftsverhältnisse verschleiert und identitäre und kulturelle Fragen und Praxen zum Heilmittel beschwört.
Was wir damals nicht sahen – möglicherweise auch nicht absehen konnten – war, dass der Neomoralismus sein Gegenstück in einem vermeintlich materialistischen und klassenbasierten Ausdruck findet: dem revisionistischen Syndikalismus.
Wir verwiesen selbst noch auf den Syndikalismus als Ausweg aus der neomoralistischen Sackgasse, da er „auf eine neue Beziehung zwischen den Arbeiterinnen und den Produktionsmitteln“2 verweist und dem Individuum Raum bietet, sich zu entfalten. So könnte der Syndikalismus ein präfiguratives Moment anarchistischer Praxis einnehmen.
Problematisch an unseren eigenen Ausführungen ist hier bereits die Trennung zwischen Syndikalismus und Anarchismus, wie auch die Verengung des Syndikalismus auf die ökonomische Ebene. In seine Extreme getrieben, ergibt sich daraus ein revisionistischer Syndikalismus, der sich, im falsch verstandenen Sinne des revolutionären Syndikalismus, von ‚jeder Politik und Ideologie‘, und damit auch vom Anarchismus, lossagt. Im nächsten Schritt fällt der revisionistische Syndikalismus noch weiter hinter den revolutionären Syndikalismus zurück, indem er sich a) von der Revolution und b) vom syndikalistischen Organisationsprinzip verabschiedet. Was bleibt ist Syndikalismus als Form der Haltung, die nur zum Ausdruck bringen soll, für ‚die da unten‘ zu sprechen. Dass man sich damit deutlich der Sozialdemokratie einerseits und dem Leninismus andererseits annähert, wird durch diese Haltung gekonnt kaschiert.
Der Ausgangspunkt: Kritik an der Linken und das Kaschieren des eigenen Versagen
Ausgangspunkt – zumindest der theoretische – für den revisionistischen Syndikalismus ist eine Kritik an Versatzstücken des Neomoralismus, vorzugsweise der Identitätspolitik, oder auch an der des Neoanarchismus, der sich nach 1968 in der BRD formierte, und den subkulturellen Bezügen des Anarchismus. Soweit diese Kritiken grob gesehen richtig und berechtigt sein mögen, leitet der revisionistische Syndikalismus einen Fehlschluss aus ihnen ab: er verortet das neomoralistische Prinzip in paranoid-wahnhafter Weise nicht nur in den explizit so auftretenden Kreisen, sondern auch überall in der eigenen Bewegung und macht es verantwortlich für das historische Ausbleiben (bzw. Scheitern) der Revolution und den schweren Stand, den der Syndikalismus aktuell hat. Bemerkt sei hier: der Syndikalismus, denn der Anarcho-Syndikalismus gilt dem syndikalistischen Revisionismus bereits als ideologischer Irrläufer, den es zu überwinden gilt.
Das paranoide Element im revisionistischen Syndikalismus verhindert es, gesellschaftliche Umstände wie staatliche Eingriffe, Krieg, Konterrevolution, die Einbindung des Proletariats in die Verteilung des Mehrwerts und andere Maßnahmen, die auf das Bewusstsein der arbeitenden Klasse wirken, als Gründe für historische Niederlagen und derzeitige Schwäche zu erkennen. Die Schuld am historischen und aktuellen Versagen scheint ausschließlich eine ideologische zu sein, aus der wiederum organisatorische Probleme folgen sollen.
Festhalten lässt sich als Antrieb und Motivation des revisionistischen Syndikalismus die tiefe Enttäuschung darüber, dass die Welt so ist wie sie ist und wir bisher als Klasse nicht im Stande waren, sie neu zu ordnen. So nachvollziehbar dies auch ist, stellt Enttäuschung keine gute Analysekategorie dar. Doch genau als solche wird sie herangezogen, wenn sich der revisionistische Syndikalismus die eigene Irrelevanz anschaut. Dabei sind ihm emanzipatorische Ideen insgesamt bereits anrüchig geworden und die Enttäuschung wird auf vermeintlich von Identitätspolitik und Neoanarchismus durchdrungene Individuen projiziert, die dann die Schuld an der eigenen Bedeutungslosigkeit tragen sollen – mit ihren Ideen von Revolution und Antikapitalismus, Basisdemokratie, Hierarchiefreiheit und der Ablehnung von bezahltem Funktionärstum. Mit derartigen Flausen würde nur die Organisation zu Grunde gerichtet. All dies über Bord zu werfen, bietet sich dem revisionistischen Syndikalismus (bzw. seinen Protagonisten) als Ausweg an, um endlich Erfolg zu spüren und den eigenen Anteil am kollektiven Misserfolg nicht denken zu müssen; Erfolg ist in diesem Schema vor allem als Bewegung um der Bewegung willen spürbar, egal ob die Menschen dabei als selbstorganisierte Arbeiterschaft auf den Plan treten oder als willfährige Masse. Hauptsache irgendwas passiert.
Doch wem die Richtung egal ist, so lange marschiert wird, hat selten neue Horizonte erreicht, sondern sich auf den immer gleichen Wegen befunden. So wundert es nicht, dass das Verlangen um Bewegung und Bedeutung konsequent in den Reformismus führt – es kann kaum anders, wenn man sich von jeglichen Bezügen, die diesem entgegenstehen wegen Ideologieverdacht verabschiedet hat. Ziel ist also nicht mehr der Bruch mit dem Bestehenden, sondern eine Bearbeitung der Realität in dem Sinne, dass die individuelle Bedeutungslosigkeit sich im Sog der Bewegung verlieren kann, hin zu einer Neumodifikation des Klassenkompromisses. Kurz: Reformismus ohne dies eingestehen zu wollen. Hierbei verwechseln wir nicht, dass der Anarcho-Syndikalismus nicht gegen Reformen ist, sondern diese für unmittelbare Verbesserungen der Lebensbedingungen des Proletariats stets unterstützte.3 Der Reformismus hingegen genügt sich selbst in der Reform, er hat keinen höheren Ausdruck, keine Erwartung.
Selbstverständlich findet der revisionistische Syndikalismus seinen Ausdruck in verschiedener Schattierung, mal ist er autoritärer, sektiererischer, mal erscheint er als ehrlich verzweifelter Ausdruck über die eigene Erfolglosigkeit. Gemein scheint seinen Akteuren eine mangelnde Gegenständlichkeit, sie haben keinen praktischen Bezug zur Welt, können nicht gestaltend eingreifen, sich nicht als schöpferische Wesen begreifen. Ihr Verhältnis zur arbeitenden Klasse ist zwiespältig. Entweder wollen sie Teil von ihr sein, begreifen aber nicht, dass es praktische und damit auch ideologische Fragmentierungen innerhalb der Klasse gibt – nicht alle Lohnabhängigen produzieren klassische Waren, manche produzieren Dienstleistungen, andere Ordnung oder Absatzmöglichkeiten – oder sie gehen, zumindest implizit, von einer immanenten Auflösung des Klassenkonflikts und der Klassenordnung aus, weshalb sie in Arbeitern vorwiegend eine Art Manövriermasse sehen.
Exemplarische Skizzen des revisionistischen Syndikalismus
1. Die ehrliche Enttäuschung und die Flucht in den Schoß der Ordnung
In mehrerlei Texten hat sich der Autor Torsten Bewernitz weg vom Anarcho-Syndikalismus hin zum revisionistischen Syndikalismus entwickelt. Lupenrein zeigt sich dies in der Formulierung, dass „der Syndikalismus immer dann verfremdet [wurde], wenn Intellektuelle für ihn sprechen wollten (Georges Sorel oder Robert Michels, die von ihren eigenen Theorien ausgehend im Faschismus oder dessen Nähe landeten, aber auch Gustav Landauer oder Erich Mühsam, die den originären Syndikalismus mit Glaubenssätzen des Anarchismus vermischten).“4 Es zeigt sich, dass Bewernitz Syndikalismus und Anarchismus nicht als Ergänzungen, bzw. sich aufeinander beziehende sondern entgegenstehende Pole wahrnimmt. Mit Rudolf Rocker ließe sich hierauf erwidern, „dass Anarchismus und Syndikalismus sich gegenseitig ergänzen. Die syndikalistische Bewegung würde in dem Moment ihren ursprünglichen Charakter verlieren und zur gewöhnlichen Gewerkschaftsbewegung degradiert werden, wenn sie die großen Prinzipien des freiheitlichen Sozialismus, oder, um es noch deutlicher auszusprechen, des kommunistischen Anarchismus aus den Augen verlieren würde.“5
Eben darum ist es fatal, wenn er konstatiert, dass in Arbeitsrecht und Organisierungsprozessen geschulte Genossen zum Rekrutierungspool des DGB gehören würden. Bewernitz liest dies als Zeichen der Professionalisierung der syndikalistischen Bewegung, doch diese ‚Professionalisierung‘ geht bei ihm einher mit der Abnahme ‚idealistischer Bindung‘ der Genossen. So sind seine Aussichten zweierlei: Genossen die nicht genug über das Wesen bürokratischer Regime wie den DGB wissen und naiverweise auf Veränderungen hoffen, indem sie ihm beitreten und dort wirken; außerdem Genossen die denken, sie könnten im DGB für die syndikalistische Sache lernen. Zum ersten lässt sich anmerken: „Eine Institution ist aber nicht dadurch umfunktioniert, dass Genossen an der Spitze stehen. Da sind nur die Genossen umfunktioniert.“6 Zu zweiterem: Die syndikalistischen Institutionen sind natürlich deutlich labiler, als es die stark konzentrierten Machtapparate des DGB sind, hier ist eine Umformung der Institutionen noch möglich – alleine deshalb, weil sie sich im permanenten Austarierungsprozess zwischen Ideen- und Interessensorganisation befinden. Durch den Wegfall der revolutionären Ideen ändern sie ihren Charakter grundlegend, bleiben auch nur dem Namen nach Interssensorganisationen, da sie den Weg in den Reformismus und damit den Klassenkompromiss antreten.
Wie wenig Bewernitz von der Sache versteht wird deutlich, wenn er das Ganze zu einem Generationenkonflikt verklärt, indem die ‚Alten‘ rein ideell (was bei ihm durchaus negativ konnotiert ist) seien, die ‚Jungen‘ hingen pragmatisch wären (was er dem ideellen positiv gegenüberstellt). Pragmatismus bedeutet für Bewernitz die Aufgabe des Anarcho-Syndikalismus hin zum revolutionären Syndikalismus, der sich selbst genügt. Die von Bewernitz skizzierten Konfliktlinien verlaufen natürlich auch entlang von Generationen, diese sind aber nicht ihr Ursprung. Die Linie – alte Anarchosyndikalisten/junge ‚pragmatische‘ Syndikalisten – ergibt sich überhaupt erst aus einem Mangel an (Selbst-)Bildung in syndikalistischen Organisationen. So gibt es nicht ein theoretisches Organ zur Diskussion der Bewegung.7
Betrachten wir noch einmal Bewernitz' Rückbesinnung auf den revolutionären Syndikalismus: hier zitiert er auch wohlwollend Karl Heinz Roth, der eine Organisierung ohne Ideologie fordert (was in dem Kontext eine Polemik gegen jede Form von halbwegs zu Ende gedachten Ideen meint). An dieser Stelle lässt sich wiederum auf Rocker verweisen, der darlegte, dass sich der Syndikalismus nicht selbst genügen kann, da er immer den materiellen Einflüssen der Umwelt ausgesetzt ist, sich schon immer aus verschiedensten Ideenfragmenten zusammensetzte und dies auch weiter tun wird. Streichen wir das „Anarcho“ vor Syndikalismus, wird „der große Zug für die Neugestaltung der Gesellschaft im Sinne des freien Sozialismus […] ausgeschaltet.“8
Bewernitz hat sogar ein Art programmatische Schrift vorgelegt, in der er seine Wendung hin zum revolutionären, bzw. eigentlich revisionistischen Syndikalismus vollzieht: „Syndikalismus und neue Klassenpolitik“. Direkt zu Anfang legt er den Lesern dabei nahe, dass der Syndikalismus möglichst wenig Ideen haben solle, denn „[e]s kann nicht darum gehen, der Arbeiterklasse eine eigene, geschlossene Theorie oder Ideologie nahezubringen, sondern die Initiative hat sich im Gegenteil an der Arbeiterklasse zu orientieren.“9 Das klingt nicht nur wie der schon immer falsche Ansatz „die Leute da abzuholen, wo sie sind“, sondern meint auch im Kern genau das. Es bedeutet und hat schon immer bedeutet, keinerlei Standards für irgendwas anzulegen und der Masse nach dem Mund zu reden. Nun sind die Menschen in der BRD bekanntlich wenig revolutionär und so kann es eine Organisation, die nach derlei Prinzip arbeitet, keinesfalls sein. Schuld an der desaströsen Lage ist – wer hätte es gedacht – die (neo-)anarchistische Vereinnahmung der syndikalistischen Organisationen, bzw. die traditionalistische und dogmatische „Verstocktheit“.10
Er lehnt „das strenge Beharren auf ‚Prinzipien‘“ ab – dies würden die Zeiten verbieten – und schlägt vor die anarchosyndikalistischen Gewerkschaften aufzulösen, damit es eine breitere Organisierung auf Klassenbasis geben könne; eine die nicht in Konkurrenz zum DGB stehen würde. Es lohnt sich, ihn hier ausführlich zu zitieren:
„Es braucht ein Organisierung auf Klassenbasis, die nicht im engeren Sinne Gewerkschaft ist und nicht in Konkurrenz zu den Gewerkschaften des DGB steht. Konzeptionen dafür gibt es durchaus. Syndikalismus, die Idee also, dass die Interessensorganisationen der arbeitenden Klasse bereits den Keim der transformierten Gesellschaft in sich tragen sollten, muss nicht bedeuten, eigene Gewerkschaften zu gründen. Wenn dies nicht zweckdienlich erscheint, kann Syndikalismus auch bedeuten, eine soziale Organisierung zu initiieren“.11
Es ist bezeichnend für Bewernitz' Verständnis von Syndikalismus, welch eindimensionalen Begriff von Gewerkschaft er hat. Die anarchosyndikalistische Gewerkschaft zielte immer darauf ab, mehr als nur Gewerkschaft zu sein, sie soll nicht bloße Lohnkämpfe führen, sie soll auch Kulturorganisation und Schule für Selbstverwaltung und Sozialismus sein, in der die arbeitende Klasse darauf vorbereitet wird, Produktion und Konsumtion zu organisieren und sich selbst (nicht nur hierdurch) als Menschen neu erfinden kann.
Die angestrebte Organisierung auf Klassenbasis solle dann so aussehen, dass sich die syndikalistischen Organisationen auflösen und ‚Workers Center‘ bilden sollen – also lokale Organisationen, die nicht gewerkschaftlich im engen Sinne auftreten, sondern mehr soziale Belange, Nachbarschaftliches etc. auffangen sollen – um damit „eine starke Ergänzung zum DGB zu entwickeln.“12 Steff Brenner, der den Grundkonflikt des revisionistischen Syndikalismus ganz richtig erkannt hat, weist völlig zurecht darauf hin, dass eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft eine Institution wie den DGB bei zunehmender Stärke ganz hervorragend vor sich her treiben könnte13 – Bewernitz will den DGB nicht vor sich hertreiben, er will ihm zuarbeiten. Vermeintlich im Interesse der arbeitenden Klasse, möglicherweise auch real in ihrem Interesse, aber mit einem Horizont der nicht weiter als bis zur nächsten Tarifrunde reicht. Das ist besser als nichts, aber weder anarchosyndikalistisch noch syndikalistisch.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass Bewernitz' Enttäuschung, die ihn zum revisionistischen Syndikalismus treibt, durchaus nachvollziehbar ist. Der Anarcho-Syndikalismus ist in den letzten 40 Jahren seines organisierten Bestehens in Deutschland nicht gerade zum Erfolgsmodell avanciert, doch ist es lächerlich billig, dies quasi ausschließlich auf anarchistische Anteile zurückzuführen. Im Rahmen der aufgestellten dichotomen Ausprägungen linker Charaktere ist es aber mehr als passend: quasi idealtypisch überträgt Bewernitz die Formen des Neomoralismus auf den Anarcho-Syndikalismus, um so im Ganzen mit ihm zu brechen und sich mit dem revisionistischen Syndikalismus in den Reformismus zu stürzen. Wie ein kommender DGB Funktionär sieht er Menschen vor allem als Manövriermasse, die bewegt und nicht organisiert werden soll. Organisierung ist hier gar nicht mehr angestrebt, sondern nur noch punktuelle Mobilisierung, mehr scheint für Bewernitz nicht mehr vorstellbar, ohne dass Menschen im „Durchlauferhitzer“ Organisation zu Grunde gingen.14 Doch: Mobilisierung soll bei ihm „nicht mit Unverbindlichkeit verwechselt werden.“15 Sie soll sich in die Interessenslagen, Lebensbedingungen etc. pp. einfügen, also nichts, was nicht auch für jede Form der Organisierung gelten würde und es lässt sich erahnen, dass die Mobilisierung genau so verbindlich sein soll, dass sie noch für die Mitgliedschaft in einer DGB Gewerkschaft reicht. Schließlich könne man auch problemlos „Mitglied einer reformistischen Einheitsgewerkschaft und zugleich (Anarcho-)Syndikalist*in sein, man kann theoretisch reflektieren und praktisch kämpfen.“16 Stellt sich nur die Frage, wie da für was gekämpft wird und wenn der DGB die rahmengebende Instanz ist, liest sich Bewernitz Satz wie: In meiner Freizeit bin ich wahnsinnig unangepasst.
Wer den Anarcho-Syndikalismus in den DGB bringen will, hat nichts von ihm verstanden. Dann ist man auch nicht „bekennender Syndikalist in ver.di und zweifelnder Syndikalist in der FAU“17, sondern hat sein Bewusstsein der materiellen Existenz, die von DGB Geldern abhängig ist, angepasst und ist reformistischer Agitator, der sich Syndikalismus lediglich als Haltung bewahrt, die ihm den Hauch des Rebellischen verleiht.
2. Der autoritäre Backlash und der Kampf für die herrschende Ordnung
Neben Torsten Bewernitz tut sich Holger Marcks als besonders umtriebiger Autor und Agitator des revisionistischen Syndikalismus hervor. Zum einen mit einer Artikelserie in der Direkten Aktion (von denen zwei Artikel im Grunde redundant sind, da sie nur den Weg ebnen sollen um seinen Thesen im letzten Teil mehr Akzeptanz zu verschaffen) und mit dem Online-Buch „Zurück nach vorn. Ein sozial republikanisches Panorama“, welches er gemeinsam mit Felix Zimmermann verfasst hat (und zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist).
Wie bei Bewernitz verhält es sich bei Marcks: Ein ausgewachsener Frust und eine berechtigte Kritik an der neomoralistischen Linken wird auf den Anarcho-Syndikalismus übertragen. Dessen Einflüsse (Identitätspolitik, Gendern, Neoanarchismus)18 werden für das bisherige Scheitern anarchosyndikalistischer Gewerkschaften verantwortlich gemacht (wobei Marcks dies weiter ausdehnt und den Anarchismus quasi mit dem Neoanarchismus gleichsetzt, der somit für jede ausbleibende Revolution und auch den Faschismus verantwortlich sein soll19), weshalb es nur einen großen Bruch mit diesem geben könne.
Durch Marcks zeigt sich aber, dass der revisionistische Syndikalismus durchaus noch radikalere Züge annehmen kann als bei Bewernitz und dass es sich nicht um einen monolithischen Block handelt. Nebst einer Ablehnung basisdemokratischer Strukturen – Bewernitz hängt ja mehr der Illusion an, es gäbe im DGB etwas zu reformieren – gibt er jede Form von Staats- und Kapitalkritik auf, die bei Bewernitz immerhin noch als persönliche Marotte vorkommen darf. Darüber hinaus schafft er es trotz aller Kritik nicht, sich aus der Logik der Identitätspolitik zu lösen sondern reproduziert diese vielmehr unbewusst.
2.1 Autorität ist gut, wenn ein Profi sie hat
Zweierlei ist in Marcks Texten zum Thema Basisdemokratie bemerkenswert: Zum einen, dass er ihr Ineffektivität vorwirft, der er die Effektivität der vertikalen Organisierung bzw. der repräsentativen Demokratie gegenüberstellt, zum anderen, dass er dies nicht zuletzt aus seiner Kritik am Antiautoritarismus ableitet, die er auch damit begründet, dass altgediente Genossen (wie er selbst) zu wenig Gehör fänden.
Die Basisdemokratie, oder wie Marcks an anderer Stelle schreibt, die horizontale Organisation sei „in erster Linie exklusiv und schafft vertikale Asymmetrien bereits in der Basis; horizontal ist sie nur insofern, als dass dann ein erlesener Kreis in der Breite aller Fragen mitsprechen kann. Im Gegenwartssyndikalismus wird letztere Asymmetrie jedoch kaum problematisiert. Aufgrund des autoritätsfeindlichen bias werden nur die möglichen Probleme zwischen Basis und FunktionärInnen wahrgenommen. Positive Aspekte der Repräsentation werden ebenso ausgeblendet wie die Probleme des Horizontalismus.“20 Diese wären z.B. dass hier „jedes Mitglied formal gleichberechtigt [ist], faktisch aber ist Einfluss an den Einsatz von Ressourcen gebunden: Wer immer an den Versammlungen teilnimmt, wo seriell abgestimmt wird, hat implizit mehr Stimmgewicht als Mitglieder, die dies nur selten können.“21
Nun mag es berechtigte Kritik an den formalen Strukturen anarchosyndikalistischer Gewerkschaften geben, er führt hier Vollversammlungen an, aber auch Sekretariate mit geringen Entscheidungskompetenzen, doch Marcks ist nicht daran gelegen, auf eine konstruktive Weise Wege zu finden, um die Partizipation zu verbessern, damit Menschen in der Organisation eingebunden sind, sondern er will den Prozess des Ausschlusses aus der organisatorischen Arbeit vorantreiben und verstetigen. Nach Marcks soll nicht versucht werden, diejenigen mit wenig Zeit besser einzubinden, sondern sie sollen sich direkt damit begnügen, ihre Stimme abzugeben. „Denn viele der Aufgaben, die sich einer Transformationsorganisation stellen, sind einfach zu komplex, als dass der Durchschnitt der zufälligen Versammlungskonstellationen kompetent bewerten könnte, wer kompetent für ihre Erledigung wäre.“22 Hier spricht die Arroganz der Herrschenden bzw. derjenigen die sich mit der Herrschaft identifizieren.
Unterstrichen wird dieser Anspruch auf Herrschaft, der als Partizipation verkleidet wird, mit dem Hinweis, dass bezahltes Funktionärstum sozial integrativ wirken würde.23 Damit fällt er (wie auch an anderen Stellen) weit hinter den revolutionären Syndikalismus zurück, dessen wichtigster Theoretiker, auf den er sich teils direkt, teils indirekt immer wieder bezieht, Émile Pouget, sich sehr klar zur repräsentativen Logik geäußert hat. Er setzte ihr die Selbstermächtigung der Arbeiter durch die direkte Aktion entgegen:
„Die direkte Aktion befreit also den Menschen aus dem Würgegriff von Passivität und Willenlosigkeit, in dem der Demokratismus ihn zu halten versucht. Sie lehrt ihn, zu wollen, anstatt sich aufs Gehorchen zu beschränken, seine Souveränität auszuüben, anstatt seinen Teil davon an einen Delegierten abzutreten.“24 Des Weiteren sei das System von Repräsentanz nicht geeignet, sollen Menschen heute lernen, die Welt von morgen zu organisieren:
„Doch um diese Liquidierung der alten Ausbeutungswelt zu bewerkstelligen, muss die Arbeiterklasse sich mit den Voraussetzungen für die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung vertraut machen; sie muss die Fähigkeit und den Willen besitzen, dieses Werk aus eigenem Antrieb zu vollbringen; sie darf, um mit den auftretenden Schwierigkeiten fertig zu werden, nur auf die eigene, unmittelbare Leistung setzen, auf Kompetenzen, die sie aus sich selbst heraus entwickelt, und nicht auf die Gunst irgendwelcher ‚Mittelsmänner‘, vom Himmel gesandter Wohltäter, Bischöfe in neuem Gewand. In letzterem Fall wäre die Ausbeutung nicht beseitigt, sondern würde in gewandelter Form fortbestehen.“25
Nun spricht natürlich nichts dagegen, Menschen mit schon vorhandenen Fähigkeiten für bestimmte Aufgaben zu delegieren, nicht alle müssen alles können, Arbeitsteilung ist gut und sinnvoll; aber zwischen Delegierten, die rechenschaftspflichtig sind und jederzeit abberufen werden können und einem repräsentativen Wahlsystem, wo die Menschen zyklisch ihre Stimme abgeben sollen, liegen Welten.
Weiter lässt sich der instrumentelle Umgang von Marcks, aber auch von Bewernitz mit dem revolutionären Syndikalismus daran ablesen, dass sie immer wieder ins Feld führen, dass die syndikalistische Gewerkschaft eine Interessensorganisation statt einer Ideenorganisation sein müsste. Richtig ist, dass Pouget genau dies in aller Vehemenz vertritt, da er Ideenorganisationen nicht für fähig zur Revolution hält. Was sie verschweigen ist aber, dass die Interessenorganisation einen ganz klaren Auftrag hat – „die Gesellschaft auf kommunistischer Grundlage neu aufzubauen“.26 So ist es relativ zu sehen, dass die Mitglieder nicht nach ihren politischen Ansichten ausgewählt werden sollen, denn wenn sie Mitglied werden, entscheiden sie sich bereits für den Kommunismus.
Pougets Ablehnung und Trennung des Politischen von der Gewerkschaft ist auch im historischen Kontext und als rhetorischer Trick zu betrachten. Politisch war ihm der Parlamentarismus, die Stellvertreterpolitik, als nicht politisch galt ihm die Ablehnung von Parteiarbeit, der Drang zum Klassenkampf und der Wille der Arbeiter zur Revolution. Darüber hinaus vertrat er auch keinesfalls die Auffassung irgendwelche programmatischen oder organisatorischen Zugeständnisse zu Gunsten von vermeintlichen Mitgliederströmen zu machen, vielmehr würden revolutionäre Umbrüche immer von Minderheiten ausgehen und die Revolutionäre der arbeitenden Klasse dürften sich nicht durch die Trägheit der Massen bremsen lassen.27
2.2 Der Staat ist für die Arbeiter, ebenso das Kapital
Vollends von jeder Form der fortschrittlichen Gesinnung verabschiedet sich Marcks, wenn er den Klassenkonflikt in einem sozialpartnerschaftlichen Sinne weiterhin einfrieren will – und dies auch für weitere mögliche Aktionsfelder des Anarcho-Syndikalismus als die Lohnarbeitssphäre vorschlägt – wie zum Beispiel im Mietsektor.
So kann er die Einhegung der Arbeiterbewegung in das System durch Arbeitsschutzgesetze, Sozialgesetze etc. nicht dialektisch betrachten, sondern sieht sie ausschließlich als demokratischen Progress, den es auszuweiten gelte. Da verwundert es auch nicht, dass er sich zwar indirekt, aber dennoch positiv auf Bismarck bezieht28 – der ja auch an dieser Demokratisierung mitgewirkt hätte, irgendwie. Bismarck selbst hat den dialektischen Charakter der eigenen Handlungen hingegen ganz genau durchschaut:
„Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“29
Auch weniger polemisch lässt sich konstatieren, dass Marcks Einschätzungen bewusst eine staatstragende Perspektive einnehmen. Wenn er z.B. schreibt:
„Vor allem aber liegt mit dem Betriebsverfassungsgesetz und dem Gewerkschaftsrecht eine Verfassungsmäßigkeit im Bereich der Arbeit vor, die als partielle Demokratisierung jener Sphäre verstanden werden kann.“30
So blendet er vollkommen aus, dass es eben solche Gesetzgebungsverfahren waren, die bewusst und willentlich eingesetzt wurden, nicht weil „ zu starke Klassenwidersprüche die Demokratie untergraben“31 und man aus Liebe zu den Arbeitern den Sozialstaat errichten wollte, sondern weil der revolutionären Bewegung eben durch die Einhegung durch Absicherung, durch die Erhöhung des Lebensstandards, durch partielle Teilhabe am Mehrwert, durch Repräsentanz in Parlamenten, das Wasser abgegraben wurde. Nicht theoretisch, sondern ganz real:
„Eine Verstaatlichung der Arbeitsbeziehungen erwies sich als Vorteil für die gemäßigten Gewerkschaften. Faktisch machte es sie unabhängiger von der Kontrolle ihrer Mitgliedschaft. Außerdem wurde die Konkurrenz von links durch die Gesetzgebung kleingehalten. Auf Grundlage des 1926 verabschiedeten Arbeitsgerichtsgesetzes sprachen die Arbeitsgerichte der FAUD die Tariffähigkeit als gewerkschaftliche Vereinigung ab. 1930 wurde dies durch ein Urteil des Reichsarbeitsgerichts bestätigt. Praktisch war damit der FAUD untersagt, ihre Mitglieder vor den Gerichten zu vertreten.“32
Marcks ist das durchaus bewusst und er benennt das Problem – er will es nur nicht wahrhaben und möchte dies alles lieber als Demokratisierungsprozess betrachten. Dieser sei auch keinesfalls abgeschlossen, er ließe sich durch „Mikrorevolutionen“ in anderen Bereichen fortsetzen – in der Wohnungsfrage möchte er durch eine (seinen Vorstellungen nach wohl entsprechend hierarchisch organisierte) Mietergewerkschaft eine neue Form der Verrechtlichung des Mietverhältnisses erreichen. Nicht nur, dass hier der Kampf um die Abschaffung jeder Mieten für die Verewigung von „fairen“ Mieten geopfert werden soll, die Eigentumsverhältnisse also gänzlich unangetastet bleiben. Der Interessengegensatz, der hier klar auf der Hand liegt, würde – gänzlich wie beim Arbeitsrecht – zunehmend verschleiert, weil Partizipation suggeriert würde, ohne an den Verhältnissen zu rütteln.
Das heißt nicht gegen Mietergewerkschaften zu sein, sondern dass diese Teil des Kampfes der arbeitenden Klasse, bestenfalls in einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft integriert sein müssen, bei der es auch und vor allem darum geht, Eigentum zu kollektivieren. Das Vertrauen, was Marcks in den Parlamentarismus und die Rechtsordnungen setzt, zeigt sein eigenes Erliegen vor ihrem ideologischen Schein. Er benennt ganz richtig, dass die Sphäre des Rechts es geschafft habe, als autonome Ordnung anerkannt zu werden33 – nur erkennt er überhaupt nicht, dass dies ein Fetisch ist. Eugen Paschukanis hat bereits in den 1920er Jahren herausgearbeitet, wie sich der Rechtsfetischismus parallel zum Warenfetischismus mit der Konstituierung kapitalistisch-bürgerlicher Herrschaftsverhältnisse durchgesetzt hat.34 So ist mit dem bürgerlichen Recht niemals gegen diese Ordnung vorzugehen, obgleich sie als außenstehend wahrgenommen wird, ist sie ihr immanent und jeder Versuch mit dem Recht gegen die Ordnung zu sein, kann nur in der Einhegung münden.
Da Marcks Sozialismus nur als staatlichen Eingriff denken kann, sieht er in der liberalen Republik viele sozialistische Momente vorhanden, bzw. die Republik erscheint ihm als eine sozialistische Teilverwirklichung.35 Sozialismus ist für ihn gleichbedeutend mit technokratischen Eingriffen des Staates in die Wirtschaft, etwas das von oben durchgesetzt wird. Zurecht geht er mit seinen Ansichten auf Distanz zum Anarcho-Syndikalismus:
„Die Anarchosyndikalisten sind der Überzeugung, dass eine sozialistische Wirtschaftsordnung nicht durch Dekrete und Gesetze irgendeiner Regierung geschaffen werden kann, sondern nur durch die uneingeschränkte Zusammenarbeit der Arbeiter, Techniker und Bauern.“36
Hieran anschließend führt Rocker aus, wie die Verwaltung der Konsumtion organisiert werden kann. Weiter ausgeführte und auch deutlich mehr Lebensbereiche umfassende Pläne zur gesellschaftlichen Selbstverwaltung hat es durchaus gegeben37, es stellt sich keineswegs so dar, dass der Anarcho-Syndikalismus annähme, wie Marcks behauptet, „ die Neuordnung der wirtschaftlichen Sphäre würde einen allgemeinpolitischen Überbau überflüssig machen“.38 Der sozialistische Aufbau ist aus anarchosyndikalistischer Perspektive ein umfassendes Projekt, was alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens berührt und in denen überall neue Umgangs- und Vermittlungsformen etabliert werden müssen. Es ist nicht umsonst so, „daß der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage ist“39, auch und deswegen kann der Staat ihn nicht einführen, er muss von und durch die Menschen in einem kollektiven Prozess geschaffen werden. Nicht als abstrakter Entwurf von Gesellschaft im Parlament, sondern dort wo die Menschen sich konkret begegnen, miteinander tätig sind, in Beziehung zueinander treten, schöpferisch tätig sind. Entsprechend ist auch Marcks Hinweis, die Menschen seien nicht nur Arbeiter, sondern „eben auch Bürger, die noch viele andere Belange der Gemeinschaft zu klären haben“, mit dem er die künstliche Trennung und Partialisierung der bürgerlichen Gesellschaft zwischen ökonomischer und politischer Sphäre im Sinne seines Projekts rechtfertigt, kapitalistische Apologetik. Er erkennt nicht, dass das Auseinanderfallen in eine „Privatperson und ökonomische Person“ bei dem die Individuen eine „merkwürdige Spaltung“40 in sich selbst erfahren, Teil des Problems, Teil des entfremdeten Zustands ist, den es aufzuheben gilt.
2.3 Under pressure
Trotz seiner ausufernden Kritik an Identitätspolitik schafft Marcks es nicht, sich aus ihren Denkmustern zu lösen und argumentiert seinerseits wieder mit identitären Kategorien. Wenn er syndikalistischen Organisationen auf Grund ihrer basisdemokratischen Struktur ‚Klassismus‘ unterstellt41 – weil eben nur jene mit genügend Zeit in ihnen aktiv sein könnten – zeigt sich ein grundlegendes Problem: Er begreift nicht, dass Klasse die jeweiligen Beziehungen zu den Produktionsmitteln beschreibt, sondern sieht sie als Merkmal von Unterdrückung und Privilegien, wie Race und Gender. Damit deutet er Klassenzugehörigkeit identitär um und verliert den ökonomischen Zugang.
Im nächsten Schritt reiht er sich mit diesem Blick in die „unerträgliche Dynamik der Unterdrückungsolympiade“42 ein, wenn er identitäre Politiken bzgl. Geschlecht und Sprache gegen sein identitäres Klassenverständnis aufwiegt.43 Versteht er gendern als „ein binnenkolonialist. Projekt, da hier ein bildungsbürgerl. Milieu den einfachen Menschen – Männern und Frauen, Kartoffeln und Migranten gleichermaßen – ihre Auffassung von Sprache abspricht und diese in ihrem (vermeintl.) eigenen Interesse zivilisieren möchte“, stellt er diesem seine ganz eigene Auffassung der Sprache der arbeitenden Klasse gegenüber: „Klartext und Nachdruck gelten aber in den unteren Klassen als ehrlich und interessiert, während Diplomatie und Gleichmut als unaufrichtig und teilnahmslos wahrgenommen werden. Diese kulturelle Diskrepanz lässt sich auch materiell erklären, denn immerhin wachsen Angehörige der unteren Klassen nicht nur in einer raueren Umwelt auf, die weniger für [sic!] Raum für Befindlichkeiten lässt, auch weil Zeit eine knappere Ressource ist, ergibt sich die Notwendigkeit einer direkteren Kommunikation.“44 Wie in anderen wenig bis nicht materialistischen Vorstellungen über „die Unterschicht“ und wie diese sprechen würde, wird auch bei Marcks „der wichtige Stellenwert des gemeinsamen handgreiflich-gegenständlichen Bezugs der Zwischenmenschlichkeit im tagtäglichen Arbeits- und Kooperationsprozeß, welcher die Perspektivenverschränkung von Arbeitern doch wesentlich prägt, sträflich vernachlässigt.“45 Die „einfache Sprache“ oder die „klaren Worte“ sind funktionalistisch dem Arbeitsprozess entnommen – Marcks essentialisiert sie, als Ausdruck der Verrohung von Menschen „in einer rauen Umwelt“, in der es wenig „Raum für Befindlichkeiten“ gibt.
Diese identitäre Verklärung von Arbeitern dient ihm wiederum als Rechtfertigung für die Errichtung hierarchischer Strukturen: „Wenn sich der Syndikalismus also nicht durch solche klassistische [sic!] Mechanismen ad absurdum führen will, muss er Repräsentation beinhalten. Nur wenn Mitglieder RepräsentantInnen wählen können, von denen sie ihre Interessen vertreten sehen, ist es möglich, die für Transformationspolitik nötigen Massen einzubinden.“46 Wer sich in einer Republik durch Abgeordnete hinreichend repräsentiert sieht, kann natürlich nichts schlechtes daran finden, sich selbst zum (gewählten) Arbeiterführer zu imaginieren.
So wundert es nicht, dass die Ideen, die Marcks entwickelt, deutlich an den Leninismus erinnern. Da ist die künstliche Trennung der politischen und ökonomischen Sphäre, die Beschränkung der Gewerkschaft auf die Betriebe und den Lohnkampf, die avantgardistische Rolle, die man sich bzw. den Funktionären zuschreibt, die der Masse der dumpfen und rauen Arbeiter in ihrem Elend den Weg weist, der geplante Aufbau vielerlei Vorfeldorganisationen, die alle nach dem selben Prinzip hierarchisch strukturiert sind und sich planmäßig in die Bewegung einfügen sollen, damit der Staat übernommen werden kann47 – hier zwar nicht durch den Bruch mit der herrschenden Ordnung, sondern durch das schleichende Einsickern. Beides läuft aber auf die Identifikation mit dieser hinaus, man kann eben nicht „nach Belieben ein Organ der sozialen Unterdrückung in ein Instrument für die Befreiung der Unterdrückten umwandeln.“48
Klassenverhältnis und Bewusstsein
Es gäbe gute Grunde, sich mit dem Sozialgefüge in anarchosyndikalistischen Organisationen auseinandersetzen – bestehen sie wirklich vorwiegend aus Studierenden und akademisierten Angestellten –, aber nicht, wie Marcks es tut, um dann die einen gegen die anderen auszuspielen, sondern um sich bewusst zu machen, welche Rolle da wer im Produktionsprozess einnimmt, wie sich dies auf das Bewusstsein und die jeweiligen Interessen auswirkt. Gerade die sich diversifizierende Arbeitswelt, in der immer mehr Menschen Angestellte in verschiedenen produktiven und unproduktiven Sektoren sind, klassische Arbeiter zahlenmäßig geringer werden, sich in ungelernte und Facharbeiter gliedern, Bullshitjobs teils unsinnige Qualifikationen erfordern, teils überhaupt keine – all das wäre von höchstem Interesse für den Anarcho-Syndikalismus.
Gehen wir in diesem Sinne ein Beispiel zum Abschluss durch: Akademiker, die mit dem Hochschulbetrieb verbandelt sind, sind nicht im eigentlichen Sinn produktiv, sie schaffen keinen Mehrwert, und erbringen keine Dienstleistung die als quantifizierbare konsumiert und bezahlt würden. Durch die verschiedenen Klassenkompromisse, die sie von den allzu unangenehmen Formen des Beherrscht-werdens befreien, sehen sie sich selbst in der Regel nicht als Kopfarbeiter – also als Arbeiter – sondern nehmen sich nur als freie und gleiche staatsbürgerliche Subjekte wahr. „Diese Gruppe bleibt im Verhältnis zur Bourgeoisie prekär, wobei der potenzielle Verlust der relativen Privilegiertheit durch Nichterfüllen der materiellen und habituellen Rolle disziplinierend wirkt.“49 Die durch sie – und andere große Teile einer Angestelltenklasse – betriebene sich selbst genügende Ausweitung der Bürokratisierung ist besonders „funktional für den Kapitalismus als Ensemble aller gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhänge.“50 Sie fungieren dabei als kapitalistische Ober- und Unteroffiziere51, sie produzieren und reproduzieren nichts außer dem beständigen Fortgang des Apparats in dem sie sich befinden und eben genau damit produzieren sie etwas: Ordnung.
Das vermeintliche Erkennen, szientistische Zerlegen, soziologisch empirische Untersuchen von Welt und Menschen, das sich im ständigen Zwang an der richtigen Stelle Drittmittel einzuwerben befindet, ist in keinem Sinne neutral und erst recht nicht unabhängig. Der kritische Wissenschaftler, der sich in diesen Betrieb begibt, wird kaum merken, wie sich sein Bewusstsein verändert, doch fehlende praktisch bezogene Tätigkeit in Verbund und Kooperation mit anderen Menschen, aus der auch Anerkennung und Produzentenbewußtsein folgen, treibt ihn zur Identifikation mit dem akademischen Betrieb als solchem und damit zur Identifikation mit der herrschenden Ordnung – auch seine ökonomische Position spiegelt dies wider: zwar ist er Lohnabhängig, lebt aber von der „Beteiligung am von anderen geschaffenen Mehrwert“.52 So mag er sich noch einige Jahre verbalradikal geben, seine Einhegung in die herrschenden Verhältnisse besorgt er jeden Tag durch seine Arbeit, früher oder später kommt dann auch der offene Bruch und man setzt sich direkt und willentlich für die Interessen der Macht ein. Wer das dann noch als soziales und irgendwie demokratisches Projekt ausgeben möchte, bewahrt sich etwas Arbeiterchique und radikal anmutende Phrasen, ummantelt von historischen Bewegungsbegrifflichkeiten. So bewahrt man sich den Syndikalismus als Haltung.
Zum Abschied
Selbstredend muss der Weg eines Akademikers im Hochschulbetrieb nicht zwangsläufig so enden – es ist nur sehr wahrscheinlich. Wie so oft gilt auch hier:
„Der Möglichkeit nach ist jeder gleichzeitig Unterdrücker und Unterdrückter, Freund und gleichzeitig Feind. Ob er tatsächlich Freund oder Feind ist, hängt von seiner Entscheidung ab. Diese Entscheidung ist nicht immer leicht und schon gar nicht selbstverständlich. Aber sie bringt einen Menschen auf diese oder auf jene Seite der Barrikade.“53
Unsere materiellen Verhältnisse, unsere Beziehungen zu den Produktionsmitteln, unsere Einbindung in Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen, unsere sozialen Beziehungen, wie diese ausgestaltet sind, ob wir Menschen vorwiegend in (oft unbewusster) Konkurrenz begegnen und uns selbst lediglich durch sie bestätigen wollen oder ob wir mit ihnen zusammen kommen, schöpferisch tätig sind und Solidarität erfahren, all das beeinflusst, wie wir unsere Entscheidung für welche Seite der Barrikade treffen. In anarchosyndikalistischen Organisationen gehen wir davon aus, dass sich die Genossen für die arbeitende Klasse und gegen die Herrschaft entschieden haben. Wir vertrauen ihnen. Das ist auch notwendig, denn wenn wir gemeinsam arbeiten, Aufgaben und Verantwortung übernehmen und delegieren, müssen wir das Vertrauen der anderen genießen – und es ihnen wiederum entgegenbringen – in unserem Sinne ebenso wie ihm Sinne der Klasse zu handeln. Wer die Arbeiter in kleinen Mikrorevöltchen einer „Verfassungsbewegung“ in den Staat treiben möchte, kann dieses Vertrauen nicht genießen – das Vertrauen in die Genossen hat er selbst ohnehin längst verloren.
„Wo erst das gegenseitige Vertrauen in die Brüche geht, dort gibt es keine Genossenschaftlichkeit mehr, keine gemeinsamen Bande, die uns zusammenbindet als Kämpfer für die große Sache der menschlichen Befreiung.“54
1Vgl.: Tsveyfl – dissensorientierte Zeitschrift Nr. 2. Anarchismus und Neomoralismus. Moers 2018
2Fuß, Frederik: Über Ethik und Moral im Anarchismus. In: Tsveyfl Nr. 2, Moers 2018, S. 34
3Dies findet sich ausführlich dargelegt in der Schrift: Rocker, Rudolf: Der Kampf ums tägliche Brot. Moers o.J.
4Bewernitz, Torsten: Aktion vor Funktion! Organizing in Einheits- oder Einheizgewerkschaften. In: Direkte Aktion, online: direkteaktion.org/aktion-vor-funktion/ 25.08.2021
5Rocker, Rudolf: Über das Wesen des Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus. Moers 2022, S. 50
6Kelb, Bernie: Organisieren oder organisiert werden. Vorschläge für GenossInnen links unten. Hamburg 2013, S.34
7Hatte die Direkte Aktion der FAU diese Rolle, nebst Propagandablatt, zumindest teilweise inne, so ist sie seitdem die gedruckte Version eingestellt wurde, nur einer von vielen Blogs, auf dem sich Diskussionen mehr schlecht als recht entfalten.
8Rocker: Föderalismus, ebd.
9Bewernitz, Torsten: Syndikalismus und neue Klassenpolitik. Eine Streitschrift. Berlin 2019, S. 6; später auch neuerlich ausgeführt auf S. 32
10Ebd. S. 11
11Ebd. S. 17
12Ebd. S. 33
13Brenner, Steff: Anarchismus ohne Anarchist_innen? Ein Beitrag zur syndikalistischen Bewegung und Perspektiven innheralb der FAU. In: Direkte Aktion, online direkteaktion.org/anarchismus-ohne-anarchist_innen/ 010.2020
14Vgl.: Bewernitz: Syndikalismus, S. 33-38
15Ebd. S. 35
16Ebd. S. 47
17Bewernitz: Aktion
18Vgl.: Marcks, Holger: Skizzen eines konstruktiven Sozialismus (Teil 3) Grundlagen der Konstruktion: Das Gefüge transformatorischer Organisationen. In: Direkte Aktion, online direkteaktion.org/skizze-eines-konstruktiven-sozialismus-teil-3/ 02.09.2019; Marcks, Holger und Zimmermann, Felix: Zurück nach vorn. Ein sozial republikanisches Panorama, Kapitel 7, online soziale-republik.org/das-elend-der-identitaetspolitik-kulturelle-barrieren-der-demokratisierung
19Vgl. ebd. Kapitel 5, insbesondere Fußnote 18. soziale-republik.org/der-weg-des-konstruktiven-sozialismus-demokratisierung-als-sozialisierung
20Marcks: Skizze 3
21Ebd.
22Ebd.
23Ebd. Fußnote 51
24Pouget, Émile: Die Revolution ist Alltagssache, Schriften zur Theorie und Praxis des revolutionären Syndikalismus. Lich 2014, S. 142f
25Ebd. S. 144
26Ebd. S. 70
27Vgl. ebd. S. 68ff
28Vgl.: Marcks/Zimmermann: Zurück, Kapitel 6, Fußnote 18. soziale-republik.org/abtragen-und-aufbauen-die-konstitutionalisierung-der-sozialen-sphaeren
29von Bismarck, Otto: Gesammelte Werke (Friedrichsruher Ausgabe) 1924/1935, Band 9, S. 195/196
30Marcks/Zimmermann: Zurück, Kapitel 6
31Ebd.
32Rübner, Hartmut: Vom Lokalismus zum Anarchosyndikalismus. Ein Rückblick auf die Geschichte der syndikalistischen Bewegung in Deutschland anlässlich des 100. Jubiläums der FAUD. In: Direkte Aktion, online direkteaktion.org/vom-lokalismus-zum-anarchosyndikalismus/ 08.01.2020
33Marcks/Zimmermann: Zurück, Kapitel 3, soziale-republik.org/die-wiederentdeckung-der-sphaeren-eine-neue-gewaltenteilung
34Vgl.: Paschukanis, Eugen: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe. 2003 Freiburg
35Vgl.: Marcks/Zimmermann: Zurück, Kapitel 2 und 5
36Rocker, Rudolf: Anarchismus und Anarchosyndikalismus. Moers 2014, S. 27
37U.a.: Studienkommision der Berliner Arbeiterbörsen / Franz Barwich: „Das ist Syndikalismus“. Die Arbeiterbörsen des Syndikalismus. Frankfurt a. M. 2005
38Marcks/Zimmermann: Zurück, Kapitel 3
39Rocker, Rudolf: Prinzipienerklärung des Syndikalismus. FAUD: Mit uns voran! Hamburg 2013, S. 25
40Ottomeyer, Klaus: Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten und Identität im Kapitalismus und Neoliberalismus. Berlin 2014, S. 48
41Vgl.: Marcks: Skizze 3
42Volcano, Abbey: Begrenzungspolizei. In: Darin; Rogue; Shannon; Volcano (Hg.): Anarchismus queeren. Münster 2017, S. 54
43Vgl. Marcks/Zimmermann: Zurück, Kapitel 7, hier auch Fußnote 7. soziale-republik.org/das-elend-der-identitaetspolitik-kulturelle-barrieren-der-demokratisierung/
44Marcks: Skizze 3, Fußnote 69
45Ottomeyer: Zwänge, S. 97
46Marcks: Skizze 3
47Wer das bei Lenin näher nachvollziehen möchte, lese Lenin, W.I.: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung. In: Ders.: Ausgewählte Werke Band 1, Berlin 1979
48Rocker: Anarchismus, S. 9
49CampusGrün Hamburg: CampusGrün löst sich auf. Kritik, Reflexionen und offene Fragen aus sechs Jahren Hochschulpolitik an der Uni Hamburg, online www.campusgruen.org/news/CGAufloesung/Aufloesungserkl%C3%A4rung.pdf, S.30
50Ebd.
51Nach Marx findet sich in der kapitalistischen Produktionsweise eine quasi militärische Ordnung, in der Arbeiter an verschiedenen Stellen der Hierarchie Platz nehmen und sie nach unten hin kontrollieren. Vgl.: MEW Band 23, Berlin 1962, S. 351f
52Ottomeyer: Zwänge, S. 99
53Kelb: Organisieren, S. 11
54Rocker: Föderalismus, S. 60