Zu Roe vs Wade

 

Roe v. Wade könnte umgestoßen werden. Die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs sichert seit 1973 in den USA das Recht auf Abtreibung ab. Gesetzliche Einschränkungen sind nur unter bestimmten Bedingungen möglich und dürfen es nicht grundsätzlich außer Kraft setzen. Ab dem zweiten Trimester sind teilweise, ab der Lebensfähigkeit des Fötuses weitreichende Einschränkungen möglich, und in der überwiegenden Mehrheit der US-Bundesstaaten sind Gesetze in Kraft, die Schwangerschaftsabbrüche bereits ab dem zweiten Trimester unterschiedlich stark regulieren. Theoretisch erlaubt Roe v. Wade Schwangerschaftsabbrüche aber bis unmittelbar vor der Geburt.

Das liegt daran, dass Roe v. Wade nicht nur inhaltlich, sondern insbesondere formell ein spektakuläres Urteil ist. Es handelt sich nicht um eine spezielle Abtreibungsgesetzgebung. Vielmehr stellte das Urteil fest, dass der 14. Zusatzartikel der Verfassung auch für schwangere Frauen gilt und sie daher vor unverhältnismäßigen staatlichen Einschränkungen, z.B. durch ein allgemeines Verbot von Abtreibungen, geschützt werden müssen.

Das bedeutet einerseits: restriktive Abtreibungsgestzgebungen sind verfassungswidrig, insofern Staaten, die diese durchsetzen, das Recht auf Selbstbestimmung der schwangeren Frau missachten.

Andererseits ist das Besondere, das Individuum, dessen Recht auf Selbstbestimmung hier gegen das Allgemeine, den Staat und dessen Zugriff, geschützt wird, in dem Zusatzartikel, aus dem das Urteil abgeleitet wird, explizit nicht geschlechtlich oder sonstwie definiert. Daher eignet er sich, um auf seiner Grundlage gegen Diskriminierung zu klagen, weswegen er auch im Rahmen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung immer wieder erfolgreich konsultiert wurde.

Was Roe vs. Wade so speziell macht: da nur Frauen schwanger werden können, handelt es sich bei gesetzlichen Einschränkungen und Verboten von Schwangerschaftsabbrüchen nicht um Diskrimierung, da diese für Männer durchaus auch gelten, für sie aber irrelevant sind. Einschränkungen und Verbote von Schwangerschaftsabbrüchen sind also gleichzeitig allgemein- als auch nur für Frauen gültig und ihre Beschränkung durch den Obersten Gerichtshofs ist es ebenso.

Das heißt, Roe vs. Wade leitet aus dem 14. Zusatzartikel den Anspruch auf Selbstbestimmung so ab, dass aus ihm gruppenspezifische Rechte abgeleitet werden können, insofern es gruppenspezifische Einschränkungen der Selbstbestimmung geben kann. Weil die Frage nach Selbstbestimmung als Frage nach der effektiven Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens verstanden wird, kann der Schutz vor staatlichem Zugriff exakt so partikular sein, wie dessen Geltungsbereich.

Roe vs. Wade etabliert damit nicht nur das Recht auf Abtreibung, es etabliert auch eine universelle Begründung für die Rechte von Frauen auf Grundlage ihres Geschlechts als Selbstbestimmungsrechte.

 

Konservative Akteure kämpfen seitdem dafür, die Entscheidung rückgängig zu machen. Über die Absurditäten und Selbstwidersprüche von Abtreibungsgegnern wurde und wird breit debattiert, ihre politischen Ziele und Verflechtungen mit rechten und rechts-konservativen Netzwerken werden analysiert. Warum aber motiviert der Kampf gegen frauenspezifische Selbstbestimmungsrechte überhaupt so viele Akteure und schafft es, auch politische Bewegungen zu integrieren, denen sonst kaum gemeinsame Interessen nachgesagt werden können?

Dieser Frage ist Frederike H. Schuh in der aktuellen Ausgabe der Tsveyfl mit Der Gipfel der Entfremdung – Zum Verhältnis von Autonomie und sexueller Differenz nachgegangen. Sie zeigt, wie „das Unbewusste männlicher Subjektivität“ Weiblichkeit so imaginiert, dass ihr in Form der gebärenden und nährenden Mutter die Macht über das Leben selbst zugeschrieben wird. Weil Männer nicht den Belastungen eines um weibliche Reproduktionsbiologie organisierten Körpers, durch Schwangeschaft und Geburt ausgesetzt sind, erschreckt und reizt sie diese vermeintliche Macht so sehr, dass sie die Rechtfertigung der Unterdrückung der Frau werden konnte.

Frederike H. Schuh erläutert, wie sich in Mythos, Religion und Kultur Erzählungen finden in denen Macht aus der Aneignung der prokreativen Kraft der Frau abgeleitet wird, wie dieses Bild unseren Blick auf die sexuelle Differenz bis heute prägt und was das mit der Omnipräsenz von Präparaten zur Unterstützung der Erektionsfähigkeit zu tun hat.

 

Der Kampf um weibliche Autonomie ist so universal, wie die Unterdrückung der Frau, die auf die Aneignung ihrer prokreativen Kraft zielt. Unsere Autorin beleuchtet inwiefern Autonomie durch diese Unterdrückung auch für Männer prekär bleibt und zeigt auf, warum alle dabei verlieren.

Aus Anlass des Angriffs auf die Rechte von Frauen auf Grundlage ihres Geschlechts durch die mögliche Abschaffung von Roe vs. Wade möchten wir Euch diesen Text besonders zur Lektüre empfehlen.

Frederike H. Schuh: Der Gipfel der Entfremdung – Zum Verhältnis von Autonomie und sexueller Differenz