Call for Papers – Tsveyfl #4

Anarchismus und Klasse

Mit seiner Analyse des Kapitalismus hat Marx den Begriff der Klasse als zentrale Kategorie kapitalistischer Gesellschaften geprägt. Seine Klassifizierung verläuft entlang des Privateigentums an den Produktionsmitteln, das die Entscheidung über Produktion und Distribution von Gütern steuert. Was wird produziert? Zu welchen Kosten? Wohin wird es geliefert? Zu welchem Preis wird es verkauft? – die Antworten auf diese Fragen entscheiden darüber, wer wie an den produzierten Gütern teilhaben kann. Sie entscheiden damit über das Leben aller.

Mittelbar haben sie auch Einfluss auf die Reproduktion: wer kann zu welchen Kosten seine Arbeitskraft wiederherstellen? Wer sich und seine Familie ernähren? Wer zu welchen Kosten und Bedingungen welche Fertigkeiten erlernen?

Deswegen beginnt Marx Das Kapital, seine Kritik der politischen Ökonomie, mit der Ware – denn unter kapitalistischen Bedingungen sind Güter Waren; sie werden nicht produziert, weil sie gebraucht werden, sondern weil sie gewinnbringend verkauft werden können. Diejenigen, deren Arbeit in die Herstellung der Waren einfließt, die jedoch keinen Einfluss darauf haben, was zu welchen Bedingungen produziert wird, nennt Marx Arbeiterklasse.

 

Worüber aber informieren uns Konzepte wie das der Arbeiterklasse, des Klassenkampfes und das Ideal der klassenlosen Gesellschaft in einer post-industriellen Gesellschaft? Was bedeuten sie in einem Kapitalismus, der von jeder verlangt eine erfolgreiche Monopolistin ihrer selbst zu sein? In der der Arbeitskraftbehälter für alles zwischen „reicht nicht für ein Dach über dem Kopf“ und „reicht für sehr viele Dächer über den Köpfen anderer“ zu Markt getragen werden kann?

Zunächst weiterhin über das Privateigentum an den Produktionsmitteln und dessen ungleiche Verteilung. Soviel sich an der Organisation der Produktion verändert hat, seit Marx feststellte, dass das Proletariat nichts zu verlieren habe als seine Ketten – die Herrschaft des Kapitals hat Bestand, und mit ihr die Ausbeutung der Arbeiterinnen.

 

Debatten wie die um die ‚Neue Klassenpolitik‘ und den ‚Klassismus‘-Begriff tappen in dieselben Fallen, wie die Wirtschaftswissenschaften die alle paar Jahre einen neuen Wirtschaftssektor und die Soziologie, die alle paar Jahre ein neues Milieu entdecken: sie betrachten Klasse „als handele es sich um eine zusätzliche Form der Unterdrückung/eines Privilegs, anstatt zu begreifen, dass es sich dabei um die Beziehung zu den Produktionsmitteln handelt“ (Gayge Operaista) und wollen Klassenzugehörigkeit als nachrangiges Merkmal von Individuen statt als elementare Strukturkategorie kapitalistischer Vergesellschaftung verstehen.

Politisch setzen solche Ansätze auf Identität – die gemeinsame Interessen aus geteilten Merkmalen von Individuen ableitet, statt auf Standpunkte – die gemeinsame Interessen aus geteilten Erfahrungen durch gesellschaftliche Positionen etablieren. Ihre Legitimierung erhoffen sie sich von dem Nachweis, dass diese Merkmale sämtlich gesellschaftlichen Ursprungs seien, und daher Aufschluss nicht über ihre Träger, sondern ausschließlich über die Verhältnisse denen diese entstammen, gäben. Das Individuum wird in dieser Vorstellung zum Medium über das gesellschaftliche Verhältnisse sich ausdrücken, statt zum Subjekt, das von diesen zwar geprägt wird, sich zu ihnen aber auch verhalten kann.

 

Weil Klasse Auskunft gibt über die Positionen der Individuen innerhalb dieser Verhältnisse ist sie weiterhin eine wesentliche Kategorie anarchistischer Gesellschaftsanalyse.

Ihre Erscheinungsformen haben sich mit den Entwicklungen des Kapitalismus' geändert, verweisen aber gerade darin auch auf seine Fortsetzung. So entstand z.B. mit der Digitalisierung unter anderem ein sogenanntes digitales Proletariat, dessen Existenz darauf hinweist, dass sich zwar die Produktionsmittel verändert haben, nicht aber, welche Rolle es spielt sie (nicht) zu besitzen.

 

Nicht wenige Anarchistinnen haben Klasse in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls als identitätspolitisches Merkmal verstanden und sich damit von einer entscheidenden analytischen Kategorie zum Verständnis von Gesellschaft verabschiedet. In den letzten zwei Jahren lässt sich jedoch eine gegenläufige Entwicklung beobachten. Mehr und mehr entstehen Gruppen und Projekte, die sich als ‚klassenbewusst‘ verstehen, wobei in der Regel nur schemenhaft umrissen wird, was das bedeuten soll. Für eine anarchistische Kritik und Praxis, die systematisch auf den grundlegenden Antagonismus von Kapital und Arbeit reflektiert, wollen wir mit Euch ein tieferes Verständnis der Gesellschaft als Klassengesellschaft, entwickeln.

Hierauf zielen beispielhaft die folgenden Fragen:

 

Wie ist wer in den Produktionsprozess eingebunden? Welche Rolle spielen dabei Globalisierung, Digitalisierung, der Bedeutungsverlust des industriellen Proletariats, die Ausweitung des Dienstleistungssektors und das gestiegene Bildungsniveau? Welche Rolle spielen Klimawandel, Migration und sich wandelnde Geschlechterverhältnisse? Gibt es zwei antagonistische Klassen (Bourgeoisie und Proletariat) oder müssen Mittelklassen wie das Kleinbürgertum aber auch neue Konzepte (z.B. die professional managerial class) stärker mitgedacht werden? Sind wir Arbeiter, wenn wir nicht ‚produktiv‘ Tätig sind, also zum Beispiel im Dienstleistungssektor? Wo sind diejenigen zu verorten, die in IT, Werbung und Kommunikationsagenturen auf vielfältige Weise den Absatz der produzierten Waren sicherstellen? Ist Hausarbeit Arbeit? Wie ist ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, welche Rolle erfüllt sie für die Produktion?

 

Wie wollen wir mit den mannigfaltigen ökonomischen aber auch sozialen und kulturellen Unterschieden, die sich aus dieser Diversität der Positionen von Lohnabhängigen ergeben, politisch umgehen? Überwiegt das Bewusstsein die gesellschaftliche Positionierung oder andersrum? Was bräuchte es unter diesen Bedingungen für einen wirkungsvollen Generalstreik? Oder sind sowieso neue Mittel und Wege der Organisation nötig? Gibt es ein revolutionäres Subjekt oder würde dieses sich im Prozess der (Selbst-)Organisation bilden?

 

Wir möchten Euch dazu einladen, diesen und weiteren Fragen in der nächsten Ausgabe der Tsveyfl – dissensorientierte Zeitschrift gemeinsam mit uns nachzugehen und mögliche Antworten zu entwickeln.

 

Abstracts (max. 1 Seite) schickt ihr bitte bis zum 31. Mai an redaktion@tsveyfl.de. Bitte nennt Namen und Kontaktmöglichkeiten aller Autorinnen, sowie Eckdaten zu diesen.